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Es war grauenhaft
Tarmstedt. Roger Cottyn hat das Kriegsgefangenenlager Sandbostel als junger belgischer Soldat erlebt. Wie es dort zuging, schilderte der 94-Jährige am Dienstag vor Schülern in der Tarmstedter KGS.
Mehr als 300 Schüler sitzen im Forum der KGS, und sie sind mucksmäuschenstill. Eine gute Stunde lang. Sie wollen hören, was der kleine alte Mann auf der Bühne zu sagen hat. Aufmerksam und gebannt lauschen die Jugendlichen seinem Vortrag.
Mehr als 300 Augenpaare sind auf Roger Cottyn gerichtet. Erika Otten, Fachleiterin für Politik, Wirtschaft, Geschichte und Erdkunde an der Tarmstedter Gesamtschule, hat den 94-jährigen Belgier als Zeitzeugen des 2. Weltkriegs eingeladen. Für ihn sind Krieg, Kriegsgefangenschaft und das Lager Sandbostel keine abstrakten Begriffe, Cottyn hat das alles am eigenen Leib erlebt und weiß lebendig darüber zu berichten.
Er tut es ohne Groll oder Hass, auch wenn er fünf Jahre seines Lebens als Gefangener des Nazi-Regimes verbracht hat. Gerade mal 18 Jahre alt ist der Soldat Cottyn, als er 1940 mit der kompletten belgischen Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft gerät. Im Viehwaggon, eingepfercht mit 60 Mann, wird er nach Bremervörde transportiert. Von dort aus geht es zu Fuß zum Kriegsgefangenenlager Sandbostel, wo er zunächst nur zehn Tage bleibt. Er wird einem Bauern in Hassel bei Rotenburg zugeteilt, muss von 5 Uhr morgens bis 8 Uhr abends arbeiten. „Doch das Leben war zu ertragen“, sagt er, „wir bekamen regelmäßig zu essen.“
Ungeziefer im Überfluss
1942 wird Cottyn krank, kommt zur Behandlung ins Lager Sandbostel. Er bleibt dort, bekommt eine Arbeit in einer der Werkstätten zugewiesen. „Dort gab es vier Sektoren mit insgesamt ein paar Hundert Baracken“, erzählt er. Überall Stacheldraht, strenge Bewachung. Fluchtversuche werden mit gezielten Schüssen von einem der zahlreichen Wachtürme unterbunden. Erfolgreiche Schützen bekommen Sonderurlaub und werden befördert.
Das Essen besteht aus täglich zwei bis drei Pellkartoffeln, von denen die Hälfte verfault ist. Zudem gibt es eine Mini-Portion Kommissbrot mit Ersatzmarmelade und einen Eimer Tee. Abends gibt es heißes Wasser, in dem einige Brocken Steckrüben schwimmen. Noch schlimmer trifft es allerdings die russischen Gefangenen: „Für sie gab es noch weniger Brot und noch weniger Steckrüben.“ Dafür gibt es Ungeziefer im Überfluss. Wegen all der Läuse, Flöhe und Wanzen legt sich sich Cottyn zum Schlafen nicht auf die Pritsche, sondern auf den Tisch. „Ich hatte Glück“, erzählt er, „ich hatte einen guten Chef und durfte als Geiger in einem Orchester mitspielen.“
Davon können die Russen wiederum nur träumen. Sie müssen jeden Tag einen schweren Bauernwagen mit einem Fass durchs Lager schieben und die Fäkalien einsammeln. „1943 gab es eine Epidemie, da starben die Russen, entkräftet, wie die waren, wie die Fliegen“, berichtet Cottyn. Die Leichen werden von anderen russischen Gefangenen auf einen Leiterwagen „raufgeschmissen wie Brennholz“. Cottyn: „Das mit anzusehen war sehr deprimierend für mich.“ Er erzählt von einem deutschen Feldwebel, der „wie ein Cowboy“ durchs Lager geht und aus Lust und Laune auf Russen schießt. Und von ukrainischen Lagerpolizisten, die russische Gefangene brutal niederknüppeln. „Es war grauenhaft“, sagt Cottyn, „ich habe vielfach erlebt, wie Menschen andere Menschen für ein Stück Brot oder einen kleinen Vorteil quälten und ermordeten.“
1944 schafft es Cottyn, das Lager zu verlassen und wieder bei Bauern zu arbeiten. Am 26. April 1945 wird er in Nartum von den Engländern befreit, am 23. Mai 1945 ist er wieder mit seiner Familie in Belgien zusammen, „mit Mutter, Vater und zwei Brüdern“. Er heiratet eine Deutsche und lebt heute in Bad Segeberg.
Die Schüler sind beeindruckt. „Wir waren mit der Klasse in Sandbostel“, sagt Jascha (17), „aber dort existiert nur noch ein Bruchteil der Baracken. Man kann jetzt die damaligen Zustände viel besser nachvollziehen.“ Jarret (15): „Es ist gut, dass er hier war. Er hat das alles hier in der Region erlebt, sein Bericht war total interessant.“
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